4 · Dann, nicht mehr Serva!


Mit einer Hand an einen Laternenmast gestützt, an der anderen die Kleine im Schlepptau warf er einen Blick nach den möglichen Verfolgern über die Schulter. – Entwarnung. »Puh! Ich ... kann ... nicht ... mehr«, keuchte er jedes Wort. »Langer ... Tag. Außer ... Form. Rennen ... schlecht«, ließ er zwischen tiefen Atemzügen noch verlauten.

Serva sagte keinen Ton. Sie starrte ihn bloß an.
Auch ihr Brustkorb hob und senkte sich schnell, aber sie schien weit fitter zu sein.

»Wir haben es gleich geschafft.« Er sah sie an und dachte kurz nach. Warum er sich für das seltsame Mädchen so verantwortlich fühlte, war ihm schleierhaft. Er wollte erstmal nur nach Hause.
»Ich wohne da vorne.« Sein Finger deutete auf das kleine Eckhaus am Ende der Straße – sein Anhängsel sah aber weiterhin nur ihn an.
»Noch bis da hinten, dann kannst du dich ausruhen.«
Ihm war völlig klar, dass er das wohl mehr zu sich selbst sagte, denn seine Begleiterin schien es nicht so nötig zu haben wie er.
»Kommst du mit? Ich will dir helfen, okay? Ich kann dich ja schließlich nicht einfach so auf der Straße stehen lassen. Oder?« Er zog die Augenbrauen fragend nach oben, während er zu ihr nach unten sah.

Sie schaute zu ihm herauf, war aber immer noch stumm. In Gedanken vertieft, um selbst nach der Antwort zu suchen, die er ihr noch nicht gegeben hatte. »Warum kann er mich sehen?« Sie hatte da eine Vermutung.


* * *


Ein paar Minuten später schloss Kiro möglichst leise die Haustür auf.
Im Flur brannte kein Licht. Ein kurzer Blick auf die Uhr – zehn Minuten vor Mitternacht. Entweder seine Eltern waren gar nicht da oder schliefen bereits.
Als er Serva gerade, mit dem Zeigefinger an den Lippen, zum Stillsein auffordern wollte, ließ sie plötzlich seine Hand los. Sie hakte ihre Finger in die Taschen des Pullovers und verschwand, scheinbar zielgerichtet, in den dunklen Flur. Nur das Patschen von nackten Füßchen auf kaltem Laminat war zu hören.
Kiro folgte ihr hinein und schloss geräuschlos die Haustür hinter sich.

Als er sich in jedem Raum vergewissert hatte, dass sie vorläufig auch tatsächlich alleine waren, begab er sich in sein Zimmer. Er knipste, wie immer, zuerst die kleine Leselampe auf seinem Schreibtisch an. Kiro war gar nicht überrascht, das Flammenkind in mitten seines kleinen Reiches zu finden, wie es erstaunt die Wände betrachtete.

Er lernte nicht sonderlich viele neue Leute kennen. Wollte es auch nicht unbedingt. Aber immer wenn jemand zum ersten Mal sein Zimmer betrat, gab es diese fünf Minuten ehrfurchtsvolles Betrachten.

Jede Wand des Zimmers war bis unter die Decke voll mit seinen geistigen Werken: lange Texte, kurze Gedichte, eine Menge Notizen und unfertige Kritzeleien; einige Poster mit ziemlich finsteren Motiven und Skizzen seltsamer, okkult anmutender Symbole. – Ein Seelenklempner hätte seine wahre Freude.

Kiro hatte sich gemütlich auf sein Bett plumpsen lassen. Mit hinter dem Kopf verschränkten Armen lehnte er an der Wand und sah dem kleinen Wesen im schwachen Lichtschein zu, wie es seine Worte an den Wänden um sich herum studierte.
Unvermittelt machte sie einen Schritt auf einen der kürzeren Texte zu. Ihr bisher emotionsloser Gesichtsausdruck veränderte sich zu einer Mischung aus Überraschung und Erkenntnis.
Sie ging noch einen Schritt näher. Mit den Fingern strich sie ein paar Spinnweben von den offenbar schon älteren Zeilen und las:

»Ein Windhauch ... kaum zum Fachen gut,
durch ein elend' Häufchen Asche schnitt.
Duftend, zart nach warmem Blut.
Trägt in sich leises Flüstern mit.
Trifft auf ein kleines Fünkchen Glut.
« 

»Somniator«, flüsterte sie und unterbrach damit ihr langes Schweigen.

»Hm?«

»Träumer!«, sah sie ihn mit einem fragenden Lächeln an.

»Ich weiß. Ich spinn' mir manchmal schon ganz schön was zusammen im Oberstübchen. Aber das da ist schon älter. Ich kann mich schon gar nicht mehr erinnern ...«

»Dass du das geschrieben hast?«, fiel sie ihm, immer noch mit diesem fragenden Lächeln, ins Wort.

»Ja, kann man so sagen.«

»Weil du das auch gar nich geschrieben hast! Ha! Jetz is mir alles klar.« Sie steckte die Hände wieder zufrieden in die Taschen und stolzierte triumphierend auf Kiro zu. Ihr Lächeln war jetzt ein breites Grinsen. »Somniator. Hätt ich Dummchen mir ja auch gleich denken können.« Sie schlug sich belustigt mit der flachen Hand an die Stirn. »Ein Somniator. Logisch. Deswegen bin ich bestimmt vom Ziel abgekommen. Oooh, Mann. Dein Kern! Ja, alles klar. Staub zu Staub ... Jetz ergibt langsam alles Sinn. Dann warst das doch du. Du ... grrrr.« Sie schnippte dem völlig geplätteten Kiro mit einem Finger an die Stirn. »Hättest du mir doch auch gleich sagen können. Ha! War wohl ein Test oder so, wa? Du hättest meine Worte lieber nich an deine Wand da pinseln sollen. Erwischt! Ätsch! Bäh!« Mit rausgestreckter Zunge und den Fäusten in die Hüfte gestemmt stand sie vor dem armen Kerl, der einfach gar nichts mehr verstand.

»Ääähm ... Ich hab zwar keinen blassen Schimmer, von was du da redest, aber was heißt hier ›deine Worte‹?« Er verschränkte die Arme vor seiner Brust. Serva zitierte ihm nochmal die Worte, die sie gerade gelesen hatte. 
Als sie fertig war, merkte Kiro an: »Und wie es weitergeht, erfahren sie hinter dem Bücherstapel da.« Tatsächlich ging der Text, hinter einem unordentlichen Stapel Bücher verborgen, noch weiter. Kiro las aus seiner Erinnerung:

»Unsterblich in der Asche nämlich, 
in den Schlaf geweint vor langer Zeit, 
war es einst Flamme. Sonnenähnlich, 
hell und heiß, wähnte Sie Sich. 
Entfloh einst hierher einem Streit«, ergänzte er sie stolz.

Das Flammenkind räusperte sich übertrieben und zitierte ihrerseits weiter, während sich ihr Gesicht immer weiter dem verdutzten Jungen näherte:

»Vor Ihm. Er war ein Mensch. Es lohnte
sich für beide, sich zu binden.
Als Sie in seinem Herzen wohnte,
konnte Sie lodernd Zuflucht finden.
Auf ewig sein! Er Ihr betonte.« 

Jetzt berührten sich ihre Nasenspitzen fast. »Som-ni-a-tor«, hauchte sie ihm auf die Lippen.

Nach einigen Sekunden intensiven Augenkontakts brach Serva in lautes Gelächter aus. 

Nachdem sie sich eine Weile auf dem Boden hin und her gekugelt hatte, bis ihr der Bauch wehtat, kicherte sie nur noch spöttisch: »Du ... Du solltest mal dein Gesicht sehen.« Dann erlag sie einem erneuten Lachkrampf.

Kiro war gar nicht nach Lachen zumute. »Was hab ich mir da nur angetan? Sie ist«, da war er sich jetzt absolut sicher, »kein Mensch.« Woher konnte sie wissen, was er geschrieben hatte? Er hat es ja damals nur geträumt und keiner Seele davon erzählt; es sogar hinter diesem Stapel Bücher versteckt, damit er nicht ständig darüber grübeln musste.
Ihm wurde flau im Magen.
Ohne sie weiter zu beachten, wie sie sich da, ihn verspottend, auf dem Teppich umherrollte, ging er ins Badezimmer.
Er setzte sich auf den Rand der Wanne, drehte den Wasserhahn auf und kühlte seinen Kopf. – Zu viele Gedanken. Zu viele Fragen.


* * *


Als er gute zwanzig Minuten später wieder in sein Zimmer trabte, wünschte er sich insgeheim, dass das alles nur ein Traum gewesen war. Im ersten Augenblick dachte er noch, dass dem so wäre. Doch im zweiten entdeckte er den kleinen Hügel unter seiner Bettdecke.
Sie hatte sich wie eine Katze darunter zusammengerollt. Nur ein paar lange, schwarze Haarsträhnen schauten noch heraus.
Er ahnte bereits, dass sein Leben, vermutlich ab dem heutigen Tag, nicht mehr so sein würde wie zuvor. Er wollte sein langweiliges Leben auch gar nicht mehr. Ob es eher Resignation vor dem Unvermeidlichen war oder doch die Erfüllung eines innersten Wunsches, war ihm egal.
Er war einfach zu müde, um das jetzt noch herauszufinden.

Kiro nahm sich die große Fleece-Decke vom Fußende und breitete sie vor dem Bett aus – sein provisorisches Nachtlager für heute. Er knipste die Lampe aus und durch das Fenster fiel nur noch blasses Mondlicht. Bevor er sich jedoch auf den Boden legte, setzte er sich noch auf den Rand des annektierten Bettes.
»Serva?«, flüsterte er leise, während er sich vorsichtig über sie beugte. »Schläfst du schon?«

»Mh-mh«, murmelte sie, schon im Halbschlaf, das Gesicht tief im Kissen vergraben.

»Wir müssen uns morgen nochmal ernsthaft unterhalten, okay? Aber ich will, dass du weißt, du kannst erstmal bei mir bleiben, bis ich weiß, wie ich dir helfen kann.«

»Helfen?«

»Ja. Ich will Serva helfen.«

Ihre Stimme wankte eine piepsige Oktave höher: »Hier ... bleiben?«

»Darfst du.« Sanft streichelte seine Hand einmal über ihrenKopf. – Ein tiefes Ein- und Ausatmen war ihre stumme Antwort.
Kiro legte sich nach unten auf die Decke und schloss die Augen.
Auch er atmete noch einmal bewusst tief durch.

»Kirooo?«, meldete sich die leise Stimme aus dem Kissen doch noch mal.

»M-hm?«

»Dann, nich mehr Serva!«

. . .

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